Vor ungefähr zehn Minuten befand ich mich noch an der Kasse eines nahegelegenen Supermarktes, wo mir eine Situation widerfahren ist, die ich so zuvor noch nicht erlebt hatte: sexuelle Belästigung – im öffentlichen Raum. Diese Erfahrung wühlt mich dermaßen auf, dass ich direkt nach dem Verstauen meiner Einkäufe einfach nicht anders kann, als meinen Rechner zu zücken und mit diesen Zeilen meine Gedanken zu ordnen. Jetzt sitze ich am Küchentisch, der Mann hinter mir an der Kasse wohl eher nicht.
Noch schnell ein paar Angebote sichern, bevor es ins Wochenende geht, dachte ich mir. Nichts ahnend, dass ich dabei ins Kreuzfeuer eines anderen Supermarkt-Besuchers geraten würde. Zu der Uhrzeit meines Abstechers ist der Laden in der Regel weniger besucht, als es heute der Fall war. An den Kassen, von denen – wie so oft – auch diesmal weniger geöffnet waren, als verfügbar sind, wurden die Warteschlangen immer länger.
Zu allem Überdruss hallte es, kurz bevor ich das Kassenband erreichen sollte, durch die Lautsprecher: „Herr XY, an Kasse drei bitte!“ – meine Kasse. Ich nahm an, für die Kassiererin stünde der Feierabend an und ihr nun ausgerufener Kollege käme zum Schichtwechsel. Dem war leider nicht so. Zwar tauchte der Herr auf, die Kasse wurde jedoch kurzerhand geschlossen. Eine weitere Kollegin übernahm und lotste uns Kunden an eine neue Kasse, um diese zu öffnen.
Und da war er
Ein großgewachsener Mann, schätzungsweise Mitte, vielleicht Ende 30. Offensichtlich ungepflegt. Ja, er stank. Auch nach Alkohol. Schnell hätte man sich dazu hinreißen lassen können, ihn als obdachlos zu bezeichnen. Ich kenne ihn nicht und so möchte ich mir auch kein Urteil über seine Situation bilden oder was ihn in diese gebracht haben möge. Fakt ist jedoch: Der Mann hatte ein Problem – auch mit mir. Ich muss etwas getan haben, dass ihn verärgerte. Vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise glaubte er, ich hätte ihm seinen Platz in der Warteschlange streitig gemacht. Er stand allerdings bis dato in keiner.
Nun hinter mir in der Schlange wartend, begann der Mann beleidigend zu werden – nicht direkt nachvollziehbar mir gegenüber. Zunächst reihte er einzelne Schimpfworte wirr aneinander, die wahrscheinlich nur für mich zu hören waren. Dann fluchte er mit leiser aber aufgebrachter Stimme über die Gesellschaft. Nichts, was man als in Berlin lebend noch nicht gesehen hätte – jedoch weniger selten aus dieser unmittelbaren Nähe.
Belästigung in der Warteschlange: Wie verhält man sich am besten?
Ich versuchte zu dem immer näher rückenden Mann, dennoch irgendwie eine Art Sicherheitsabstand zu halten. In der Warteschlange einer Kasse gestaltet sich das allerdings erwartungsgemäß schwierig. Meine Komfortzone hatte er längst betreten. Statt meines Rückens wendete ich ihm meine Schulter zu, um ihn aus dem Augenwinkel beobachten zu können. Zudem bemühte ich mich, seinen Worten genau zu lauschen, um seine Botschaften entziffern zu können. So hoffte ich, zumindest irgendeine Ahnung davon zu bekommen, was mich in dieser unangenehmen Situation noch erwarten könnte.
Eine Reaktion zeigte ich dem Mann gegenüber nicht, auch wenn ich mir nun langsam sicher war, dass seine zunehmend anstößigen Worte mir galten. Mit meinem passiven Verhalten glaubte ich, seine Aufmerksamkeit nicht weiter auf mich zu ziehen als ohnehin schon – die Chancen stehen dabei meines Wissens 50:50.
Lesetipp: Catcalling: Wie wehrt man sich gegen verbale sexuelle Belästigung?
Die helfende Hand einer Kundin
Während sich der Mann von links immer wieder etwas näherte, griff von rechts plötzlich eine Hand nach mir. Nach einer geschätzt guten Minute, die sich in solch einer Bedrängnis schon mal hinziehen kann, bat mir eine Frau an, dass ich mich doch mit zu ihr stellen könnte.
Kein Wort von niemandem sonst.
Ich wiederhole mich, wenn ich sage: Die Kassen waren voll, die Schlangen lang. Ich habe mich in meiner angespannten Lage nicht großartig umschauen können, bin mir jedoch sicher, dass genügend gutgebaute und ebenso großgewachsene Männer an diesen angestanden haben, wie dieser Mann, der mich in diesem Moment bedrängte – ob er sein Handeln nun bei vollem Bewusstsein begriff oder nicht.
Aber es war eine zierliche Frau Anfang oder Mitte 30, die mir ihre Hilfe anbot und meinte: „Komm doch einfach hier zu mir rüber.“ Kein Wort von niemandem sonst.
Sich der Situation entziehen oder sie aussitzen?
Vielleicht überrascht es den ein oder anderen jetzt, aber ich dankte der Frau, lehnte jedoch höflich ab. Warum? Mein Gefühl oder vielleicht auch meine bisherigen Erfahrungen sagten mir, dass es nicht die beste Entscheidung wäre, sich zumindest aus dieser Situation zu ziehen. Vielmehr nahm ich an, ich würde die Aufmerksamkeit des Mannes erst recht auf mich lenken, sobald ich mich in die andere Schlange reihe. Also blieb ich in meiner.
Die betagte Dame vor mir ließ sich währenddessen überhaupt nichts anmerken. Schließlich stand ja ich zwischen ihm und ihr. Und tatsächlich war rückblickend vielleicht auch das ein Grund, warum ich blieb. Nicht konkret wegen der Dame, sondern weil ich zumindest annahm, dass diese bereits fortgeschrittene Situation am ehesten ich selbst reibungslos über die Bühne hätte bringen können – möglicherweise naiv von mir, aber eben mein Empfinden zu dem Zeitpunkt.
Sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum: Machtwort einer Kassiererin
Als die Kundin vor mir zahlte, bemerkte auch die Kassiererin, dass mit dem Mann hinter mir etwas nicht stimmte. Erst beäugte sie ihn nur bösen Blickes. Dann registrierte sie jedoch, dass es verbal mit ihm durchging – mittlerweile auch ganz eindeutig in meine Richtung und wortwörtlich unter die Gürtellinie. Zu meinem Unmut entschied sich die Mitarbeiterin (etwa Mitte/Ende 50) daraufhin, ihn lautstark darauf hinzuweisen, dass er den Laden verlassen müsse, würde er sich nicht benehmen können.
Ich blieb ruhig, aber dennoch auf alles gefasst. Schließlich hatte der Mann mich auf dem Kieker. Und immer noch war ich es, die direkt neben ihm stand – nicht die Kassiererin, die ihn im Gegensatz zu mir wenigstens noch frontal im Blick hatte, oder irgendjemand sonst.
„Sie beleidigen hier niemanden!“
Auf die Ansage der Kassiererin zeigte der Mann keine Reaktion. Er redete weiter, vielleicht etwas leiser. Dann schleuderte er einen Kassentrenner gegen sein – Klischee aber wahr – auf dem Band liegendes Schnapsfläschchen, das daraufhin in Richtung Kassenscanner flog. Die Kassiererin setze ein weiteres Mal an – nur um ein Vielfaches lauter: „Sie beleidigen hier niemanden“, brüllte sie, nachdem sie den Kunden erneut wissen lassen hatte, dass er andernfalls gleich aus dem Supermarkt fliegen würde.
Wie hätte sie das überhaupt anstellen wollen, frage ich mich jetzt? Schließlich hätte ein Security-Mitarbeiter doch schon längst einschreiten müssen, wäre er dem Laden zugeteilt gewesen.
Bis zu diesem Zeitpunkt waren locker vier bis fünf lange Minuten vergangen, als sich erstmals der Kassierer der Nachbarkasse einmischte und fragte, ob es „Probleme“ gäbe. Mille Grazie. Tatsächlich stellte sich schnell Besserung ein: Der Mann hinter mir schien sich zu fangen. Seine Stimme verstummte.
„Und sorry für alles“
Die Kassiererin kassierte mich endlich ab, zu meinem Besten sehr zügig. Allerdings musste ich meinen Einkauf nach dem Zahlen am Ende der Kasse noch eintüten. Ich blieb konzentriert, stellte mich ans Kopfende der Kasse, um die Bewegungen des Mannes besser im Blick zu haben und packte mein Zeug ein. Er gab seinen Pfandbon ab, nahm sein Pfandgeld entgegen und verabschiedete sich von der Kassiererin: „Und sorry für alles“, deutete er mit einer Kopfbewegung auf mich und fügte an „Auch für das hier“.
Als er sich abwendete, ließ ich den Mann nicht aus den Augen. Und als ich ihn vor dem Laden in die gleiche Richtung die Rolltreppe nehmen sah, die ich auch hätte gehen müsse, nahm ich noch einen Umweg in die Drogerie gegenüber. Sicher ist sicher. Ich wählte die Nummer meines Freundes, schilderte ihm, was gerade passiert war und versuchte gleichzeitig meine Gedanken zu ordnen – immer noch.
Verlass dich auf dich selbst
Vielleicht war es die situationsbedingte Überforderung, aber bis zu dem Zeitpunkt als mich die junge Frau Anfang oder Mitte 30 ansprach, hatte ich nicht einmal daran gedacht – geschweige denn erwartet – dass mir jemand zu Hilfe kommen könnte. Warum? Vielleicht, weil ich gelernt habe, dass ich mich eher auf mich selbst als auf andere verlassen kann. Gänzlich widerlegt hat dieses beklemmende Erlebnis die Richtigkeit dieser Einstellung zumindest nicht.
Ohne Frage bin ich der Kundin aus der Warteschlange der Nachbarkasse dankbar, sogar sehr. Sie hat nicht nur erkannt, dass hier etwas schieflief, sondern auch gehandelt. Doch was hätte sie oder hätten wir zwei allein schon tun können, wäre die Situation aus dem Ruder gelaufen? Dann noch auf die umherstehenden Männer zu hoffen, wäre sicher nicht die klügste Entscheidung gewesen. Für deren Handeln hätte wohl erstmal „etwas“ passieren müssen – so zumindest machte es den Eindruck. Als ob das, was sich bereits abspielte, nicht schon genug gewesen wäre.
Wenn ich richtig liege, zählt das beherzte Eingreifen in solch eine bedrängende Situation zur Zivilcourage, oder? Heiliger Strohsack, liebe Männer. An diesem Tag hättet ihr euch eine ordentliche Scheibe von den Frauen um euch herum abschneiden können. Auch wenn sie vielleicht nicht viel hätten ausrichten oder das zündelnde Feuer durch eine falsche Reaktion noch weiter hätten entflammen können: Sie hatten wenigstens den Schneid und haben den Mund aufgemacht. Ob Mann oder Frau: Niemand muss den Helden spielen, aber du kannst dich mit anderen zusammentun, um eure Stimmen gemeinsam zu erheben – gegen sexuelle Belästigung, die sich im öffentlichen Raum schamlos vor deinen Augen abspielt.
NACHWORT
Sexualisierende Bemerkungen gelten als sexuelle Belästigung
Spätestens als ich versuchte, meinen vorangegangenen Zeilen einen möglichst treffenden Titel zu geben, wurde mir bewusst, dass ich in diesem Fall nicht „nur“ von Belästigung – sondern sogar von sexueller Belästigung reden muss. Denn diese kann sowohl tätlich und gestisch, als auch verbal erfolgen. Strafbar sind mündliche Übergriffe mit sexuellem Inhalt jedoch nur, wenn sie eine Beleidigung nach § 185 StGB darstellen. Der Tatbestand einer Beleidigung auf sexueller Grundlage ist allerdings in den seltensten Fällen juristisch erfüllt – der Grund: die Beweisbarkeit einer beleidigenden Ehrverletzung.
Befragung zeigt: Sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum ist in Deutschland keine Seltenheit
Eine repräsentative Befragung von Frauen aus verschiedenen Ländern des Instituts Ifop im Auftrag der Jean-Jaurès-Stiftung in Paris zeigt, dass sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum auch in Deutschland keine Seltenheit ist – im Gegenteil: Demnach gaben 56 Prozent der befragten deutschen Frauen an, im Laufe ihres Lebens schon einmal ohne ihr Einverständnis beharrlich auf der Straße angesprochen worden zu sein. Zudem ergab die Umfrage, dass 36 Prozent der befragten Europäerinnen während ihres Lebens bereits öffentlich beschimpft, verspottet oder sexistisch beleidigt worden sein sollen.
Für die Erhebung wurden zwischen dem 25. und 30. Oktober 2018 6.025 Frauen ab 18 Jahren befragt – davon 1.004 aus Deutschland, 1.004 aus Frankreich, 1.009 aus Italien, 1.007 aus Spanien, 1.001 aus Großbritannien und 1.000 aus den Vereinigten Staaten.
Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass auch Männer sexuell belästigt werden.
Ich verstehe die Frau, dass sich sich durch diesen Mann gestört fühlte. Diesem Typen möchte ich nicht einmal als Mann begegnen. Nur hat dieser Bericht einen komischen Beigeschmack. Fast werden nun durch diesen Bericht alle anständigen Männer, die sich kaum getrauen, eine nette Frau korrekt – vielleicht unbeholfen – anzusprechen, in den gleichen Topf geworfen.
Warum sie Autorin gleich deswegen einen Bericht schreibt, von einem Mann, der wohl mehr in eine Psychiatrie gehört als in den öffentlichen Bereich, ist mir schleierhaft. Es gibt blöde, dumme, arrogante und u.v.m. (Attribute) Männer – doch die Mehrheit ist doch korrekt. Doch solche Berichte schüren noch mehr einen Graben zwischen Männern und Frauen, als diesen zu verbinden.
Es wäre schön, wenn Frauen nicht nur über sexuelle Belästigungen schreiben, sondern auch von Männern, die vermittelnd, korrekt und höflich sind. Daran könnten sich die Deppenmänner orientieren… das würde vielleicht auch dazu beitragen, alle zusammen zu bringen – anstatt noch mehr Misstrauen zwischen Männern und Frauen zu streuen.